«Wie fern und wie nah»


Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen auf dem Eichberg


Ausgangsüberlegung

der AG Gedenkstätte zur Gestaltung der Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ Vitos Rheingau, Eltville (Gabriele Deutschle)


Vitos Rheingau plant die Gestaltung und Einrichtung einer Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ auf dem Eichberg.

Vitos Rheingau, zuvor ZSP Rheinblick, ist hervorgegangen aus dem Psychiatrischen Krankenhaus Eichberg, dessen Vorläufer die „Heil- und Pflegeanstalt Eichberg“ war. Das bauliche Ensemble spiegelt eine fast 200-jährige Psychiatriegeschichte wider. Die Anlage wurde 1849 als eine der fortschrittlichsten Einrichtungen der Zeit nach dem Konzept der philanthropischen Psychiatrie in bewusst idyllischer Lage oberhalb des Rheintals erbaut. Die Gebäude zeugen noch heute vom Einfluss italienischer Baukunst. Dieser Neubau löste die psychiatrische Einrichtung im benachbarten Kloster Eberbach ab, die auf das Jahr 1815 zurückgeht. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Rassenpolitik in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt stehen in krassem Gegensatz zum ursprünglichen philanthropischen Konzept der Architektur.

In der Zeit des Nationalsozialismus war die psychiatrische Einrichtung auf dem Eichberg bei Eltville eine der Stätten, wo das Programm der Rassenpolitik und „Euthanasie“ am extremsten umgesetzt worden ist: 178 Menschen wurden hier zwangssterilisiert, fast noch einmal so viele sind auf Veranlassung der Eichberger Anstalt in anderen Einrichtungen unfruchtbar gemacht worden. 2.300 Patientinnen und Patienten sind allein im Jahr 1941 in der Zwischenanstalt auf dem Eichberg gesammelt und von dort aus nach Hadamar in die Gaskammer geschickt worden. Ebenso viele Menschen wurden bis 1945 direkt auf dem Eichberg umgebracht. Zudem existierte hier eine „Kinderfachabteilung“. Hier kamen u. a. die sog. Reichsausschuss-Kinder hin, die aufgrund ihrer schweren Erkrankung aus der bisherigen Familien- oder Anstaltsbetreuung ausgesondert wurden, um sie zu töten und zum Teil ihre Hirne für menschenverachtende erbbiologische Forschungen zu missbrauchen. Zwischen 1941 und 1945 starben mindestens 500 Kinder in der „Kinderfachabteilung“ auf dem Eichberg, bei 200 von ihnen ist durch Zeugenaussagen belegt, dass sie gezielt getötet worden sind. Die Hirne wurden dort selbst oder in den Universitätskliniken Frankfurt/M. und Heidelberg untersucht.

Ziel ist die Einrichtung einer Gedenkstätte für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Rassenpolitik. Es sollen die Namen aller auf den Friedhöfen begrabenen Menschen, die der NS-Politik zum Opfer fielen genannt werden, und ebenso das Schicksal, der in die Tötungsanstalten deportierten Menschen gewürdigt werden. Ihre Geschichte soll aus der Anonymität geholt und als individuelles Leben greifbar gemacht werden.


2011 wurde der Entwurf  “Wie fern und wie nah” von der AG Gedenkstätte und der Betriebsleitung von Vitos Rheingau einstimmig zur Realisierung ausgewählt.



Aktuelle Situation



Aktuelle Ansicht des Friedhofes auf dem Gelände von Vitos Rheingau

 


Der Friedhof liegt auf einem abschüssigen Gelände. Er weist einen dichten, zum Teil wild gewachsenen Baumbestand auf.
Einziger Hinweis auf einen Friedhof ist ein 6 m hohes Eichenholzkreuz mit einem Bruchsteinsockel. Beide sind bereits stark verwittert. Eine kleine, in dem Bruchsteinsockel  eingelassene Gedenktafel, weist nur sehr allgemein auf die Euthanasie - Verbrechen der Nationalsozialisten auf dem Eichberg hin.

Das Gelände ist für Besucher nicht ohne weiteres als Friedhof zu erkennen.



Modell



Entwurf für eine Gedenkstätte «Wie fern und wie nah» Flächenmodell 1:50

 


Beschreibung


Neben der Kennzeichnung des Friedhofs und der Nennung von Namen, Geburts- und Todestag aller dort begrabenen Menschen, thematisiert dieser Gedenkstättenentwurf die medizinischen Versuche an Kindern, stellvertretend für die allgemeine Frage nach der Mitverantwortung der Medizin an den Verbrechen während der Naziherrschaft.


„Wie fern und wie nah“ besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen:

eine sich nach innen verengenden Spirale, in deren Mittelpunkt sich die Skulptur eines Gehirns befindet.     Auf den Wänden der Spirale befinden sich die Namen der ermordeten Patienten sowie das Geburts- und Todesdatum
die Skulptur eines spielenden Kindes


Die Grünfläche und die Wege auf dem Friedhof werden in Bezug auf die Gedenkstätte neu angelegt. Ein Konzept hierzu befindet sich, in Zusammenarbeit mit einem Landschaftsarchitekten, in Bearbeitung.






Fotomontagen



Eine elliptische Spirale von Betonquadern kennzeichnet das Gräberfeld. Die Quader von 3 m Höhe, können über das gesamte Gelände des Eichbergs erweitert werden und die einzelnen Orte des Verbrechens wie Kinderfachabteilung, Operationsraum für Zwangssterilisierung,  Haltestelle der Grauen Busse  und andere markieren.  Nach innen verdichten sich die Quader zu einer begehbaren Spirale im zentralen Ort des Friedhofs. Sie öffnet sich in Richtung Norden. Der Eingang in das Zentrum der Spirale ist für den Besuche nicht auf den ersten Blick zu erkennen, sondern wird erst beim Umrunden der Spirale sichtbar.

Im Zentrum der Spirale befindet sich eine runde Stele. Der Sockel ist aus dem gleichen Material wie die Wände der Spirale gegossen. Auf Augenhöhe befindet sich eine Skulptur von einem Gehirn, abgedeckt von einer Glasglocke. Der Innenraum der Spirale ist nur einzeln begehbar. Die Wände der Spirale sind mit den Namen, Todes- und Geburtsdatum der Opfer versehen.
Die Spirale erinnert an die Windungen des menschlichen Gehirns.



Das Kind


In angemessener Distanz zur Spirale auf dem Gräberfeld steht die lebensgroße Skulptur eines spielenden Kindes. Sie ist aus dem gleichen Material wie das Gehirn innerhalb der Spirale. Das Kind trägt zeittypisch eine kurze Lederhose, Hemd und Kniestrümpfe. Die Gesichtszüge sind idealisiert und nur vage individualisiert .

 

Material


Spirale
Die Quader der Spirale werden mit Sichtbeton gegossen. Sichtbeton ist ein hochwertiger Beton, der nicht verputzt oder verblendet wird. Die Oberfläche der Schaltafeln spiegelt sich in der Oberfläche des Materials wieder. Die asketische Besonderheit des Materials, drückt tiefe Ehrlichkeit aus und betont die spirituelle Dimension des  Friedhofes bzw. Gedenkmals.
Bodenbelag: Asphalt



Gehirn und Kind
Beide Skulpturen bestehen aus weiß eingefärbtem Kunststoff, der mit Marmormehl versetzt ist und mit Glasfaser verstärkt wird. Die sehr robuste Oberfläche spiegelt den aktuellen Charakter des Materials und gleichzeitig die Wärme und Tiefe des kristallinen Naturmaterials wieder. Diese Materialkombination drückt neben seinen ästhetischen und praktischen Qualitäten, den Spannungsbogen von Geschichte und Gegenwart aus.  Die Farbe weiß entfremdet die realistisch modellierten Skulpturen. Sie öffnet die Skulpturen Gehirn und Kind für verschiedene Deutungsebenen. Außerdem verbindet sich mit dem grau des Sichtbetons eine optische Ruhe und Schlichtheit, die dem Gedenken einzelner Besucher und dem Respekt vor dem Ort  den nötigen Platz lässt.

 

Inhaltliche Erläuterung des Entwurfskonzeptes


Die Spirale besteht aus  einzelnen Betonblöcken, beschriftet mit den 2500 Namen, Geburts- und Todesdatum der auf dem Eichberg ermordeten Patienten. Durch die Nennung der Namen treten  die Ermordeten aus der Anonymität und wenigsten ihre persönlichsten Lebensdaten finden sich auf ihrem Grab wieder. Ausserdem wird durch eine solche Visualisierung des nummerischen Wertes 2500, die unglaublich Quantität der Dimension des Verbrechens eher emotional fassbar.

Eine zusätzlichen Stele, am Ort der ehemaligen Haltestelle der grauen Busse, verweist auf die 2500 Menschen, die von hier ihre Todesfahrt nach Hadamar angetreten haben.

Kind und Gehirn erzählen von den Verbrechen auf einer individuellen Ebene. Außerdem thematisieren sie die besondere Grausamkeit und Skrupellosigkeit der Morde in medizinischen Institutionen zu „wissenschaftlichen Zwecken“. (siehe auch „Wissen und Irren,  Psychatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten“ ab Seite 231)

Die gesamte Spirale ist begehbar. Die im äußeren Bereich mit großer Distanz zueinander aufgestellten  Blöcke, ermöglichen einen kontemplativen  Rundgang. Die Verengung der Spirale und die Verdichtung der  Innschriften, wirkt auf die Besucher atmosphärisch beklemmend. Ab dem Punkt, an dem die Spirale nur noch einzeln betreten werden kann, ist der Besucher alleine dem Ort und dem Erzählten ausgesetzt. Die Spirale wird von einem Feld der Betrachtung zum Erlebnisraum. Die Offenheit der Installation ermöglicht es dem Besucher jederzeit, nach eigenem Ermessen, wieder auszutreten.

Die Installation „Wie fern und wie nah“ ist nicht festgelegt und reduziert auf die o.g. Begründungszusammenhänge.  Sie ist bewusst so angelegt, dass jeder Besucher eigene Assoziationen und Gedankenketten bilden kann.

Gedankliche  Ausgangspunkte, sowie Erläuterungen  und Hintergrundinformationen zu der Gedenkstätte  werden auf einer von den Künstlern gestalteten interaktiven Hinweistafel für den Besucher nachzulesen sein.